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Juli 2014

Die Einsicht - Teil II von III

Vorbetrachtung
Geschichten, wenn sie gut sind, sagen mehr, als was sie sollen, und mehr, als wir davon verstehen. Sie laufen uns davon, wie unsere Taten unserer Absicht und ein Ereignis seiner Deutung. Manche machen es daher – wenn sie Geschichten hören – wie jemand, der am Morgen auf den Bahnhof geht und einen Zug besteigt, der ihn an ferne Ziele bringt. Er sucht sich einen Platz am Fenster und schaut hinaus. Die Bilder folgen sich im Wechsel: hohe Berge, kühne Brücken, Flüsse auf dem Weg zum Meer. Schon bald kann er die Bilder nicht mehr einzeln fassen, zu schnell geht seine Fahrt. So lehnt er sich zurück und setzt sich ihnen aus als Ganzes. Am Abend aber, als er ankommt, steigt er aus und sagt: „Ich habe viel gesehen und erlebt.“

Die Einsicht Teil II. von III.
Er war bei einem Bauern auf dem Feld. So verdiente er sich seinen Unterhalt und ein Lager für die Nacht. Sie wollten es zuerst nicht glauben, dass er der lang ersehnte Meister sei, und auch der Bauer staunte, dass sie den Mann, der mit ihm auf dem Felde war, für so besonders hielten. Er aber sagte: „Ja, ich bin ein Meister. Wenn ihr von mir lernen wollt, so bleibt noch eine Woche hier. Dann will ich euch belehren.“ Die Gleichgesinnten verdingten sich beim gleichen Bauern und erhielten Speise, Trank und Unterkunft.

Am achten Tag, als es schon dunkel wurde, rief sie der Meister zu sich, setzte sich mit ihnen unter einen Baum und erzählte ihnen eine Geschichte. „Vor langer Zeit dachte ein junger Mann darüber nach, was er mit seinem Leben machen wolle. Er stammte aus vornehmer Familie, war verschont vom Zwang der Not und fühlte sich dem Höheren und Besseren verpflichtet. Und so verließ er Vater und Mutter, schloss sich drei Jahre den Asketen an, verließ auch sie, fand dann den Buddha in Person und wusste, auch das war ihm noch nicht genug. Noch höher wollte er hinauf, bis dorthin, wo die Luft schon dünn wird und der Atem schwerer geht: wo niemand vor ihm jemals hingekommen war. Als er dort ankam, hielt er inne. Es war das Ende dieses Weges, und er sah, dass es ein Irrweg war. Nun wollte er die andere Richtung nehmen. Er stieg hinunter, kam in eine Stadt, eroberte die schönste Kurtisane, wurde Teilhaber eines reichen Kaufmanns und war bald selber reich und angesehen. Doch er war nicht ganz ins Tal hinabgestiegen. Er hielt sich nur am oberen Rande auf. Zum vollen Einsatz fehlte ihm der Mut. Er hatte eine Geliebte, aber keine Frau, bekam einen Sohn, war aber kein Vater. Die Kunst der Liebe und des Lebens hatte er gelernt, doch nicht die Liebe und das Leben selbst. Was er nicht angenommen hatte, begann er zu verachten, bis er seiner überdrüssig wurde und auch das verließ.“

Hier machte der Meister eine Pause. „Vielleicht erkennt ihr die Geschichte“, sagte er, „und ihr wisst auch, wie sie ausgegangen ist. Es heißt, der Mann sei am Ende demütig geworden und weise und dem Gewöhnlichen zugetan. Doch was heißt das schon, wenn vorher so viel versäumt ist. Wer dem Leben traut, dem ist das Nahe nicht der Brei, um den er in der Ferne schleicht. Er meistert das Gewöhnliche zuerst. Denn sonst ist auch sein Ungewöhnliches – vorausgesetzt, dass es das gibt – nur wie der Hut auf einer Vogelscheuche.“ Es war still geworden, und auch der Meister schwieg. Dann stand er wortlos auf und ging. Am nächsten Morgen war er nicht zu finden. Noch in der Nacht hatte er sich wieder auf den Weg gemacht und nicht gesagt, wohin. Jetzt waren die Gleichgesinnten wieder auf sich gestellt. Einige von ihnen wollten es nicht wahrhaben, dass der Meister sie verlassen hatte, und sie brachen auf, ihn noch einmal zu suchen. Andere konnten zwischen ihren Wünschen oder Ängsten kaum noch unterscheiden und wahllos suchten sie nach irgendeinem Weg.

Bert Hellinger

Juni 2014 August 2014