August 2014
Die Einsicht - Teil III von III
Vorbetrachtung
Geschichten, wenn sie gut sind, sagen mehr, als was sie sollen, und mehr, als wir davon verstehen. Sie laufen uns davon, wie unsere Taten unserer Absicht und ein Ereignis seiner
Deutung. Manche machen es daher – wenn sie Geschichten hören – wie jemand, der am Morgen auf den Bahnhof geht und einen Zug besteigt, der ihn an ferne Ziele bringt. Er sucht sich einen Platz am Fenster und schaut hinaus. Die Bilder folgen sich im Wechsel: hohe Berge, kühne Brücken, Flüsse auf dem Weg zum Meer. Schon bald kann er die Bilder nicht mehr einzeln fassen, zu schnell geht seine Fahrt. So lehnt er sich zurück und setzt sich ihnen aus als Ganzes. Am Abend aber, als er ankommt, steigt er aus und sagt: „Ich habe viel gesehen und erlebt.“
Die Einsicht Teil III. von III.
Einer aber besann sich. Er ging noch einmal zu dem Baum, setzte sich und schaute in die Weite, bis es in seinem Innern ruhig wurde. Was ihn bedrängte, stellte er aus sich hinaus und vor sich hin, wie einer, der nach langem Marsch den Rucksack abnimmt, bevor er rastet. Und ihm war leicht und frei. Da standen sie nun vor ihm: seine Wünsche – seine Ängste – seine Ziele – sein wirkliches Bedürfnis. Und ohne dass er näher hinsah oder ganz Bestimmtes wollte – eher wie einer, der sich Unbekanntem anvertraut –, wartete er, dass es geschehe wie von selbst, dass jedes dort sich füge auf den Platz, der ihm im Ganzen zukam, gemäß dem eigenen Gewicht und Rang.
Es dauerte nicht lange, und er bemerkte, dass es dort draußen weniger wurde, als ob sich einige wegschlichen wie entlarvte Diebe, die das Weite suchen. Und ihm ging auf: was er als seine eigenen Wünsche angesehen hatte, als seine eigenen Ängste, als seine eigenen Ziele, das hatte ihm ja nie gehört. Das kam ja ganz woanders her und hatte sich nur eingenistet. Doch jetzt war seine Zeit vorbei. Bewegung schien in das zu kommen, was dort vor ihm noch übrig war. Es kam zu ihm zurück, was wirklich ihm gehörte, und jedes stellte sich auf seinen rechten Platz. Kraft sammelte sich in seiner Mitte, und dann erkannte er sein eigenes, sein ihm gemäßes Ziel. Ein wenig wartete er noch, bis er sich sicher war. Dann stand er auf und ging.
Bert Hellinger