September 2010
Vom Reden
Und dann sagte ein Gelehrter: Sprich vom Reden.
Und er antwortete und sagte: Ihr redet dann, wenn ihr aufhört, mit euren Gedanken in Einklang zu sein; Und wenn ihr nicht länger in der Abgeschiedenheit eures Herzens wohnen könnt, lebt ihr in euren Lippen, und Geräusch ist eine Zerstreuung und ein Zeitvertreib. Und in einem Großteil eures Redens wird das Denken halb ermordet. Denn das Denken ist ein Vogel des Himmels, der in einem Käfig aus Worten zwar vielleicht seine Flügel ausbreiten kann, nicht aber zu fliegen vermag.
Es gibt manche unter euch, die aus Furcht vor dem Alleinsein die Gesellschaft des Geschwätzigen suchen. Die Stille der Einsamkeit lässt ihr nacktes Selbst aufscheinen, und sie möchte entfliehen. Und es gibt jene, die reden und ohne Wissen und Absicht eine Wahrheit ausspreche, die sie selbst nicht verstehen. Und es gibt jene, die die Wahrheit in sich tragen, aber diese nicht in Worte fassen. Im Herzen dieser Menschen wohnt der Geist in wogendem Schweigen.
Eines Menschen Einsicht leiht keinem anderen ihre Schwingen.
Auszug aus dem Buch:
Deutscher Taschenbuch Verlag, Khalil Gibran Der Prophet